09. Mai 2022
Die Angewandte begann sich
vergleichsweise früh mit der Kunst und Kulturpolitik im Nationalsozialismus in Österreich auseinanderzusetzen, in einer Zeit
als sich der Paradigmenwechsel im Verständnis der jüngeren österreichischen Geschichte erst allmählich abzuzeichnen begann.
Mit Ausstellungen wie Die Vertreibung des Geistigen aus Österreich: zur Kulturpolitik des Nationalsozialismus (1985)
und Zeitgeist wider den Zeitgeist: eine Sequenz aus Österreichs Verirrung (1988) wurden für das wenig beleuchtete
Feld der Kunst erste Meilensteine gesetzt, der auch Publikationen zur Hochschulgeschichte der Angewandten folgten. Einige
Jahrzehnte später gilt es in einem Forschungsprojekt die wechselhafte Geschichte einer der wichtigsten österreichischen Kunstinstitutionen
während des Austrofaschismus, im Nationalsozialismus bis in die frühe Nachkriegszeit vertieft zu erforschen.
Kunst
und Kultur waren im Austrofaschismus und im Nationalsozialismus zentrale Funktionsträger sowie Medien der Propagandamaschinerie
und damit zugleich essenziell für die Repräsentation von Regierenden und die Distribution ihrer politischen Anliegen. Auch
die Wiener Kunstgewerbeschule (heute Universität für angewandte Kunst) stand aufgrund dieser besonderen politischen Bedeutung
von Kunst und Kultur sowie ihrer vielen Schnittstellen zur Wirtschaft im Interesse der Öffentlichkeit und sollte mit der Unterstützung
von Lehrenden und Studierenden an der politischen Instrumentalisierung des Kunstschaffens partizipieren.
Die Ausschaltung
des Parlaments und das Verbot oppositioneller Parteien (KPÖ, NSDAP, SPÖ) ebnete bereits 1933 den Weg für Eingriffe in die
personellen Angelegenheiten durch das austrofaschistische Regime: Lehrende, die politisch nicht genehm waren, wurden hinausgedrängt.
Diejenigen, die bleiben konnten, mussten, um ihre Stellen zu behalten, der Vaterländischen Front beitreten. Während bereits
im Austrofaschismus politisch motivierte Personalentscheidungen zu einer ästhetischen Anpassung der Schule an die kulturpolitische
Linie des Regimes führten, sollte das Jahr 1938 erneut eine Umstrukturierung und politische Radikalisierung des Lehrbetriebs
einleiten. Für jüdische Angehörige stellte die nationalsozialistische Übernahme der Kunstgewerbeschule nach dem „Anschluss“
im März 1938 eine Zäsur dar. Zahlreiche Lehrende wurden aufgrund „politischer Unzuverlässigkeit“ vorzeitig pensioniert und
unterlagen damit
de facto einem Berufsverbot, jüdische Studierende wurden erst gar nicht mehr zum Studium zugelassen.
Gleichzeitig standen flammende Nationalsozialist*innen, Illegale oder Mitläufer*innen sowohl in der Lehrenden- als auch in
der Studierendenschaft bereits in den Startlöchern, um prestigereiche Posten in der Schul- und Klassenleitung anzutreten und
die nationalsozialistische Übernahme so rasch wie möglich einzuleiten.
Das Forschungsprojekt
„Sonderfall“
Angewandte. Die Universität für angewandte Kunst im Austrofaschismus, Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit (1933–1955)
nimmt personelle und strukturelle Kontinuitäten und Diskontinuitäten an der Universität für angewandte Kunst in den Blick.
Es verfolgt den Werdegang der Kunstgewerbeschule und ihrer Angehörigen von 1933 bis 1938, hin zur institutionellen Aufwertung
zur Hochschule im Jahr 1941 und über das Kriegsende 1945 hinaus in die postfaschistischen Nachkriegsjahre bis etwa 1955 hinein.
Die institutionelle Entwicklung im Kontext der heimischen und internationalen Kunstschulen bzw. -akademien, universitäre
Entscheidungsprozesse sowie die Genese der Fachklassen und Werkstätten und damit die Auswirkungen der Regime auf den Lehrbetrieb
sollen nachgezeichnet sowie Formen künstlerischer Kollaboration oder Subversion untersucht werden. Zudem gilt es Einzelbiografien
von bekannten Persönlichkeiten zu beleuchten, sowie insbesondere die Spuren vertriebener, verfolgter oder ermordeter Künstler*innen
aufzunehmen.
Das Projekt fragt nach der kulturpolitischen Bedeutung der Kunstgewerbeschule, der Hochschule bzw. (von
1948 bis 1971 auch) Akademie für angewandte Kunst im Austrofaschismus und im Nationalsozialismus sowie nach den kulturpolitischen
Schwerpunkten ab 1945. Welche Handlungs- und Entwicklungsräume gab es auf institutioneller sowie künstlerisch-ästhetischer
Ebene in Zeiten wechselnder Systeme? Letztlich stellt sich auch die Frage nach dem grenzüberschreitenden künstlerisch-kulturellen
Erbe der Schule, dem Wirken ihrer Angehörigen im Exil und damit einhergehenden Prozessen der Transkulturalisierung sowie nach
Transformationen und Neuinterpretationen von Ideen und Konzepten der Wiener Kunstgewerbeschule im internationalen Kontext.
Projektteam:
Projektleitung: Mag.
a Dr.
in Bernadette Reinhold Sen.Sc.
Mag.
a
Dr.
in Christina Wieder Sen.Sc.
OR Silvia Herkt BA MA (Leitung Universitätsarchiv)
Bettina Buchendorfer
BA BA MA (Universitätsarchiv)
A.Prof.
in Mag.
a Sophie Geretsegger (Abtlg. Kunstgeschichte)
Projektbeginn:
April 2022
Weiterführender Link:
https://kunstsammlungundarchiv.at/sammlung-kunst-architektur-design/projekte/sonderfall-angewandte/Abbildung: 15.346/42/FP Vorbereitung einer Litfaßsäule in der Fachklasse für Gebrauchsgraphik unter Leitung von Paul
Kirnig, 1939/40, Foto: Emma Reif