PhilosophieGastvortrag von Dr. Simon Godart, Berlin, im Rahmen der Lehrveranstaltung
„On not Knowing Greek 1“ von Univ.-Prof. Dr. Antonia Birnbaum, Abteilung Philosophie.
Meeting
ID: 964 8738 8384
„Und was man erwartet, vollendet sich
nicht,
für das Unerwartete findet Gott einen Weg.“
(Eur.
Med., vv. 1417-1418)
Der Vortrag wird das prominent von Nietzsche entworfene Narrativ einer Ablösung
der Tragödienform durch die Invention der platonischen Dialoge in neuem Licht zu sehen versuchen. Entgegen der selbst tragischen
Literaturgeschichte aus der Geburt der Tragödie, die gewissermaßen von einer ‚Geburt der Philosophie aus dem Geist der Tragödie‘
ausgeht und damit ein Überwindungs- und Aufhebungsgeschehen zwischen Euripides und Platon inszeniert, wird es darum gehen,
diesen ‚Geist‘ als Wiedergänger in den platonischen Ausschluss- und Abgrenzungsmomenten wiederzufinden – und so das Entstehen
der platonisch-dialektischen Philosophie als Umbesetzung (i. S. Blumenbergs) des Denkens der Tragödie zu rekapitulieren.
Damit
soll über die formale Ähnlichkeit hinaus, wie man sie im Aufgreifen der Struktur des agonalen Dialogs in Prosa erkennen könnte,
gezeigt werden, dass es Entsprechungen und Umfunktionalisierungen von zentralen Begriffen der Tragödie im platonischen Denken
sind, an denen ein bestimmter „Bedürfnisrest“ die beiden divergierenden Projekte verbindet. Beispielhaft soll dies an der
Rolle der doxa in Euripides Medea zeigen, die in Platons Politeia (hier in Buch V) für die traditionsstiftende Opposition
von doxa und gnome / episteme herangezogen wird (476 a-d). Die Transposition zwischen tragischer doxa, die Schein als fehlgegangene
Erwartung der Handelnden inszeniert, die von den Ereignissen schmerzlich widerlegt wird, und epistemischer doxa als ‚bloßer
Meinung‘, die sich im Hinblick auf wahres und allgemeines Wissen als defizitär erweist, wird zum entscheidenden Moment der
Begriffsbestimmung der Philosophie; wahre Philosophen, die die doxa überwinden, werden hier von Platon ausdrücklich in Kontrast
zu den „Schaulustigen“, den Liebhabern des Theaters (philotheamones), bestimmt. Wenn derart die Tragödie als Folie und Vorform
philosophischen Denkens gefasst werden kann, unterhalten auch die zentralen Begriffe – doxa, thymos, daimon etc. – eine Verbindung
zwischen den Genres und Denkformen, deren Umbesetzung Aufschluss über die Strukturen sowohl der Philosophie als auch der Tragödie
verspricht. Der exemplarische Vergleich dieses enjeus tragischer Konzepte und ihrer Zuspitzung bei Platon soll als Entwurf
am Begriff der doxa untersucht werden; Ziel des Vortrages ist es dabei, die divergierende Bedeutung von Zeitlichkeit für Tragödie
und Philosophie herauszustellen; anhand dieser wird sich ein Ausblick auf die beiden Kernbegriffe der Struktur des Tragischen
in Aristoteles‘ Poetik eröffnen, Anagnorsis und Peripetie, die sich mit Anamnesis und Dialektik ins Verhältnis bringen lassen.
Vorbereitende
Lektüre: Euripides Medea, insb. 5. Stasimon und Exodos Platons Staat, insb. Buch V.
Dr.
SIMON GODART studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Berlin und war er als Gastwissenschaftler an der
École des hautes études en sciences sociales in Paris. Er war Stipendiat der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literarturwissenschaftliche
Studien an der Freien Universität Berlin, wo er jetzt als Forschungsleiter tätig ist.
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