Es gehört zu
den Behauptungen der Neurobiologie, dass alle mentalen Phänomene, die wir an uns und anderen wahrnehmen, auf neuronalen Prozessen
beruhen, also deren Folge und nicht deren Ursache sind.
Zu diesen Phänomenen zählen Wahrnehmungen,
Gefühle, Gedanken, Entscheidungen und auch das Bewusstsein. Seit etwa drei Dekaden widmet sich eine zunehmende Zahl von Hirnforschern
der Suche nach den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins.
Die Forschung verfolgt dabei sehr unterschiedliche Ziele.
Die einen suchen nach den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Gehirne „bewusst sein“ können, also Leistungen erbringen,
die mit dem Attribut „bewusst“ verbunden sind. Hier werden in der Regel bewusste mit unbewussten Prozessen kontrastiert. Die
anderen befassen sich mit dem „hard problem“, mit dem schwierigen Problem, wie die immateriellen Konnotationen von Bewusstseinsinhalten,
die nur aus der ersten Person Perspektive erschließbar sind, mit den materiellen neuronalen Prozessen in Verbindung gebracht
werden können, die aus der dritten Person Perspektive des analysierenden Wissenschaftlers beschrieben werden.
Im Vortrag
werden die Ergebnisse der beiden Forschungsansätze diskutiert und die Grenzen der auf die Neurowissenschaften beschränkten
Erklärungsversuche aufgezeigt. Diese Grenzen einer naturalistischen Deutung, so der Vorschlag, lassen sich vielleicht überwinden,
wenn mentale Phänomene auch als soziale Realitäten betrachtet und ihre Deutung im erweiterten Rahmen der kulturellen Evolution
und eines epigenetisch geprägten Selbstmodells versucht wird.
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolf Singer, geb. 09.03.1943
in München, studierte Medizin in München und Paris, promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und habilitierte
sich an der TU München.
Er ist Direktor em. am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt/Main und Gründungsdirektor
des Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) sowie des Ernst Strüngmann Instituts (ESI) for Neuroscience in Cooperation
with Max Planck Society in Frankfurt/M. Ferner ist er wissenschaftlicher Leiter des Ernst Strüngmann Forums mit Sitz in Frankfurt.
Seine Forschung ist der Aufklärung der neuronalen Grundlagen kognitiver Funktionen gewidmet. Im Zentrum steht die
Frage, wie die über viele Hirnareale verteilten Verarbeitungsprozesse zusammengebunden werden, um kohärente Wahrnehmungen
zu ermöglichen.
www.brain.mpg.de