Katja Diefenbach: Die Aussätzigen dieser Erde.

Transatlantische Sklaverei und politische Gewalt im Denken Spinozas

Kaum ein anderer Denker erfuhr konträrere Auslegungen als Baruch de Spinoza. Mal galt er als Atheist und Rationalist, mal als Pantheist und Vitalist, mal als jüdischer Religionskritiker und Erbe des Marranismus. Seit dem 20. Jahrhundert wird Spinoza aber vor allem als Materialist diskutiert, der dem Marxismus eine Lektion in undogmatischem Denken und nicht-teleologischer Dialektik erteilt hat.
Ausgehend von Althussers Interesse am Begriff immanenter Kausalität rekonstruiert das Buch „Spekulativer Materialismus“ die postmarxistischen Spinozalektüren von Negri bis Balibar. Vorgestellt wird die Unkonventionalität eines Denkers, der die Eigenformierung der Materie, die affektive Produktion des Denkens und die Selbstregierung der Menge zu reflektieren gewagt hat.
Wie konnten diese unzeitgemäßen Doktrinen des 17. Jahrhunderts dazu dienen, die problematischen Begriffe des Marxismus und seine gesamte aporetische Erbschaft neu zu verhandeln? Diese Frage wird nicht nur in Form einer philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion, sondern auch eines theoriepolitischen Eingriffs verhandelt. Vor dem Hintergrund konkurrierender Descartes- und Hobbes-Lektüren in französischer Philosophie und lacanianischer Psychoanalyse werden die nicht-humanistischen und nicht-aneignungslogischen Dimensionen von Spinozas Denken sowie sein bedingungs- und konfliktlogischer Politikbegriff betont.

Der Wiener Vortrag wird sich entlang der Unterschiede von Spinozas und Hobbes‘ politischer Anthropologie vor allem auf Spinozas Idee der Politikmächtigkeit aller konzentrieren, für deren radikale Ausarbeitung er seinen gesamten intellektuellen Lebensweg brauchte. Dabei gilt es zu zeigen, dass sich die Uneinigkeit zwischen Spinoza und Hobbes vor allem aus den alternativen Schlüssen speist, die Spinoza aus der Hobbes’schen Revolutionierung des Naturrechts gezogen hat: Hobbes begreift das Naturrecht durch das Tötenkönnen des Einzelnen, Spinoza durch das Lebenmachen der Vielen. Hobbes orientiert das Begehren am individuellen Überlebenwollen, Spinoza am kollektiven Bejahen von Handlungskraft. Hobbes will die gesellschaftliche Beziehung im Souverän aufheben, Spinoza den Souverän auf der gesellschaftlichen Beziehung gründen. Hobbes säkularisiert die Idee der christlichen Schuldgemeinschaft, Spinoza sucht sie in der Politisierung menschlicher Vermögen zu überwinden.
So hat sich tief in die Anfänge der neuzeitlichen Philosophie ein Streit über die Fragen der Aneignung, der Schuld und der Souveränität eingeschrieben, der die Konflikte frühmoderner Staatsgründungen und kolonialkapitalistischen Akkumulation reflektiert und in seiner Extremität bis heute die politische Philosophie beschäftigt.
Dieser Streit offenbart seinen dramatischsten Einsatz an einer Frage, von der beide Autoren geschwiegen haben
– an der Globalisierung der Sklaverei im Schwarzen Atlantik des 17. Jahrhunderts.

Katja Diefenbach, Spekulativer Materialismus. Spinoza in der postmarxistischen Philosophie, Wien: Turia + Kant 2018


Katja Diefenbach, Spekulativer Materialismus. Spinoza in der postmarxistischen Philosophie, Wien: Turia + Kant 2018
Gastvortrag