Vom Verschwinden des Körpers

24. April 2020
Ursula Reisenberger hat Beobachtungen zur Präsenz im virtuellen Raum notiert. Die Lehrende am Zentrum Didaktik für Kunst und interdisziplinären Unterricht an der Universität für angewandte Kunst Wien reflektiert ihre Erfahrungen mit „home office“ insgesamt und „distance learning“ im Speziellen, welches seit Anfang April 2020 an der Wiener Kunstuniversität ausgeübt wird.
 
Bisher bin ich davon ausgegangen, dass Präsenz etwas mit körperlicher Anwesenheit zu tun hat. Mit dem tatsächlichen, dreidimensionalen, analog materiellen Sein zu einer konkreten Zeit an einem konkreten Ort. Dann kam Corona – und die Notwendigkeit, ausgerechnet „Präsenz“ online zu unterrichten. Das konnte ein Disaster werden. Oder eine real time real place Versuchsanordnung: Was bedeutet es, Menschen nicht dreidimensional körperlich gegenüber zu stehen sondern zweidimensional bildlich? Wie verändert sich mein Blick, mein Hören? Wie mein Gefühl für meinen eigenen Körper und die Körper der anderen? Wie verändert diese andere Körper-Wahrnehmung meine Kommunikation? Und was bedeutet Präsenz im Sinne eines tatsächlichen Anwesend-Seins, wenn die Menschen, die einen virtuellen Raum teilen, viele Kilometer voneinander entfernt sind?
Gemeinsam mit den TeilnehmerInnen des Workshops „Präsenz, Performance, Präsentation“ aus dem Angebot des Zentrums Didaktik für Kunst und interdisziplinären Unterricht der Universität für angewandte Kunst konnten wir an drei Wochenenden dieses Corona-Frühlings einige Dynamiken von Präsenz im virtuellen Raum beobachten – und Strategien erproben, die das gemeinsame Arbeiten und Lernen in diesem Raum für uns enorm erleichtert haben. Im Folgenden berichte ich von unseren Erfahrungen in der Hoffnung, dass sie auch für andere von Nutzen sind und vielleicht dazu anregen, eigene Beobachtungen zu teilen. 
 
 
Die Entscheidung, präsent zu sein
 
Wenn sich Menschen im realen Raum begegnen, wird zumindest ihre physische Anwesenheit sichtbar. Das heißt noch lange nicht, dass sie auch geistig präsent sind – aber zumindest ihr Körper ist eindeutig im selben Raum wie der ihrer Kommunikationspartner*innen. Im virtuellen Raum ist das komplexer: Ich sehe ein Gesicht in einem kleinen Fenster vor mir. Der Blick meines Gegenübers geht an mir vorbei, einigermaßen starr in den eigenen Bildschirm. Was schaut er oder sie an? Den Bildschirm, ja. Aber was zeigt der? Ich kann aus meiner Perspektive nicht erkennen, ob sich dieser Blick auf die Situation, in der wir uns angeblich gemeinsam befinden, einlässt. Vielleicht verbirgt sich hinter der scheinbaren Anwesenheit die Beschäftigung mit etwas ganz anderem?
Das ist natürlich kein Problem des digitalen Raumes – aber in diesem stellt sich die Frage noch dringender. Um überhaupt als gemeinsamer funktionieren zu können, braucht dieser Raum eine eindeutige Entscheidung. Eine Entscheidung für konkurrenzlose Anwesenheit. Eine Entscheidung für einen Raum. So wie ich in der analogen Wirklichkeit nicht in zwei Meetings gleichzeitig sein kann, kann ich es auch in der digitalen nicht. Selbst wenn es so aussehen mag, als wäre es möglich. Ich plädiere daher ganz stark für eine Anwesenheits-Disziplin: dafür, der Versuchung zu widerstehen, Dinge überlappend zu erledigen. Präsent zu sein ist die Entscheidung, hier und jetzt zu sein. Und das geht auch im digitalen Raum nicht an mehreren Orten gleichzeitig. Eine Konsequenz daraus ist zum Beispiel das Angebot, ein Meeting zu verlassen, wenn für einen Teilnehmer/eine Teilnehmerin tatsächliche Anwesenheit gerade aus irgendwelchen Gründen nicht möglich ist. 
Und noch ein Thema, das wir aus dem Analogen kennen, wird im Digitalen dringender: das der Pünktlichkeit. Präsent zu sein heißt, anzuerkennen, was ist. In diesem Fall auch anzuerkennen, dass die gemeinsame Arbeit unter diesen speziellen Bedingungen besonders herausfordernd ist. Dass sie schneller ermüdet, größere Konzentration braucht. Dort, wo sich im realen Raum Zeit mit Seitengesprächen überbrücken lässt, ja, in diesen Zwischenräumen oft neue Dinge entstehen, ist das Warten im digitalen Raum vor allem eines: anstrengend. Dasselbe gilt für die Notwendigkeit einer bewussteren inhaltlichen Disziplin, für die Wahrnehmung, ob Inhalte, die verhandelt werden, tatsächlich für alle TeilnehmerInnen relevant sind – und einer eventuellen Reduzierung der Gruppe, wo sie nur einen Teil betreffen. Die Zeit, die im digitalen Raum konzentriert gearbeitet werden kann, ist begrenzt, und es ist hilfreich, gemeinsam zu beschließen, sie tatsächlich für das gemeinsame Projekt zu nutzen.
 
 
Der zweidimensionale Körper
 
Was aber ist es, das die virtuelle Präsenz so anstrengend macht? Wenn ich am Computer arbeite, verliere ich die Wahrnehmung für meine körperlichen Bedürnisse. Dass mir kalt ist, ich Hunger habe oder zur Toilette muss, bemerke ich oft erst, wenn ich den Computer ausschalte. Gleichzeitig weiß ich, dass das Gefühl schon vorher da war. Irgendetwas an diesem digitalen Raum ent-körperlicht mich offenbar. 
Neben der Körper-Wahrnehmung geht mir tendenziell auch die Zeit-Wahrnehmung verloren. Ich fange morgens an zu arbeiten – und es ist Nachmittag, ohne dass ich das Vergehen der Zeit bemerkt hätte. Im realen Raum spüre ich ihr Ablaufen am Licht, das sich verändert. An der Tatsache, dass ich hungrig oder durstig werde. Dass ich müde werde. Das heißt, an körperlichen Veränderungen. Veränderungen meiner körperlichen Wahrnehmung. Insofern ist es nur logisch, dass das, was mich ent-körperlicht mich auch ent-zeitlicht. Und ebenso wie die Zeit kollabiert auch der Raum. Der Raum, auf den ich mich beziehe, ist ein verhältnismäßig kleines Fenster vor meinem Körper. Es gibt eine Tiefe vor, die es real nicht hat, in der sich mein Blick aber verliert.  
Ich sitze auf meinem Balkon und schaue über den Rand meines Bildschirms in die Weite. Gleichzeitig spüre ich die Rückseite meines Körpers. Spüre das aufgeheizte Holz hinter mir, meinen Rücken, der leicht schmerzt vom Sitzen. Und auch der weite Raum zu meiner Linken, der Ausblick über den anderen Balkon-Rand, ist mir bewusst, ebenso wie die Balkontür zu meiner Rechten. Wenn ich auf den Bildschirm schaue, verliere ich diesen lateralen Blick. Der Fokus verengt sich auf das Viereck vor mir in einer Weise, wie ich es mit einem noch so fokussierten Blick in den realen Raum kaum erreichen könnte. Meinem Körper fehlt die Verortung. Das, wodurch er sich überhaupt erst in seiner Ausdehnung begreift. Er reduziert sich auf eine Fläche, an der sich die Fläche vor mir abbildet. Und mit seiner Tiefe verliere ich auch die Multidimensionalität seiner Wahrnehmungsfähigkeit. 
 
 
Tunnelblick – Tunnelton
 
Der zweite Sinn, der vor dem Bildschirm erhalten bleibt, ist das Hören; auch er spielt in diesem komplexen Geschehen eine Rolle. Wenn ich einem Meeting mit Kopfhörern beitrete, reduzieren sie – ähnlich wie der Bildschirm mein Sehen – mein Hören auf einen ganz bestimmten Bereich. Ich sehe und höre wie in einem Tunnel. Wenn der Ton aus den Raumlautprechern kommt, mischt er sich, so wie in der realen Begegnung, mit allen mich umgebenden Geräuschen. Er wird sozusagen dreidimensional. 
Dort, wo mehrere Menschen gleichzeitig arbeiten und hören, oder in einer anderweitig lauten Umgebung entlastet es, den Ton reduzieren zu können; in einem relativ stillen Umfeld hingegen wird das Hören organischer, wenn sich der Ton aus dem Lautsprecher mit den real um mich herum stattfindenden Geräuschen mischen darf. Auch dadurch gewinnt meine Wahrnehmung an Tiefe. 
 
Den Körper wieder finden
 
Der Blick über den Bildschirmrand und das „weitere“ Hören alleine reichen freilich nicht aus, um den Verlust der ganzkörperlichen Wahrnehmung wettzumachen. Nach ziemlich genau 45 Minuten am Bildschirm stellt sich eine ganz eigene Art der Ermüdung ein, eine Verengung der Wirklichkeit auf das Rechteck vor mir. Wenn ich diesen Punkt übergehe, wird es sehr anstrengend. Ich kann aber auch darauf reagieren. Eine Möglichkeit der Unterbrechung ist eine einfache Pause, weg vom Schirm, Blick ins Weite, Bewegung. Aber es geht mehr. In den Workshops haben wir ca. alle 45 Minuten die Arbeit gleichsam „in einen anderen Raum“ verlegt. Mit dem Ziel, diese Zeit zu nutzen, um einerseits ganz bewusst unseren Körper wieder zu finden – und andererseits eine neue Art der Verbindung zu den anderen Gruppenmitgliedern zu schaffen. 
Die Teilnehmer*innen wenden sich vom Bildschirm ab, behalten aber die Audio-Verbindung zum/zur Host, der/die akustische Anleitungen gibt. Das kann über einfache Übungen aus einer bestimmten Körper-Technik passieren, sei es Yoga, Chi Gong oder ähnliches. Oder auch über einen Bodyscan (Ich lenke die Aufmerksamkeit zu den Füßen, den Knöcheln, Unterschenkeln, Knien… bis zum Kopf. Nehme wahr, welche Empfindungen dort gerade präsent sind. Keine Bedeutung, keine Wertung.)
Den Körper in Bewegung zu bringen, zu lockern, ist dabei hilfreich. Am wichtigsten aber ist, ihn überhaupt erst wieder in die Wahrnehmung zu holen. Eine weitere wunderbare Möglichkeit, die Aufmerksamkeit vom Denken und Schauen ins ganzkörperliche Wahrnehmen zu bringen, ist das gemeinsame stille Sitzen. In der Beobachtung des Atems verbindet sich das Bewusstsein wieder mit der Dreidimensionalität meiner eigenen Physis und der meiner Umgebung.   
Wenn der/die Host auch diese Verlagerung der Aufmerksamkeit an- oder einleitet, hilft das nicht nur allen, für die diese Art der Konzentration neu ist; seine/ihre Stimme stellt darüber hinaus eine Verbindung zur Gruppe her. Ich kehre mit meiner Aufmerksamkeit zu meinem eigenen Körper zurück und bin mir gleichzeitig bewusst, dass wir die Übung gemeinsam als Teil der Arbeit in einer Gruppe machen. All diese Interventionen benötigen nicht viel Zeit. Bereits nach zehn Minuten wird deutlich sichtbar, dass sich die Teilnehmerinnen wieder mit einer anderen Bereitschaft und Konzentration vor und auf dem Bildschirm versammeln. 
 
 
Miteinander 
 
Der Verlust einer ganzkörperlichen Wahrnehmung ermüdet nicht nur, er macht auch unzufrieden. Wenn ich für mich allein arbeite, nehme ich diese Ermüdung als zunehmende Anspannung wahr; wenn diese Ermüdung im Zusammenspiel mit anderen entsteht, zeigt sie sich als Gereiztheit. So ist uns aufgefallen, dass etwas im Umgang miteinander enger wird. Weniger großzügig, weniger geduldig. Unkonzentrierter auch. 
Vor allem in Kontexten, in denen sich eine Verbindung zwischen den Teilnehmer*innen entwickeln soll, können die oben beschriebenen Phasen der Körper-Wahrnehmung die Beziehung der Gruppenmitglieder untereinander in den Fokus rücken. Wir alle haben ein inneres Bild von den Menschen, denen wir begegnet sind – und sei es, dass wir sie nur vom Bildschirm kennen. In der Konzentration auf die eigene Körper-Wahrnehmung können wir auf dieses Wissen zurückgreifen. In meiner Vorstellung kann ich mich ganz leicht in den Kreis meiner Kollegen und Kolleginnen setzen. Meinen Körper in Resonanz zu den ihren bringen. Ich kann die Körperübungen nutzen, um gleichsam mit meinem inneren Bild von den anderen Teilnehmer*innen zu kommunizieren, zu spielen, zu tanzen… Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die einzige Regel ist, dass die Kommunikation in dieser imaginierten Begegnung nicht über die verbale Sprache läuft. Die Teilnehmer*innen befinden sich dabei in einem geschützten Raum: Die Stimme des Moderators bzw. der Moderatorin begleitet sie – aber ihre deaktivierte Kamera macht sie nicht sichtbar. Es mag für einzelne eine etwas verstörende Zumutung sein, sich in einen solchen Vorstellungs-Raum zu begeben. Erfahrungsgemäß gewinnt aber die Freude am Ausprobieren und, im Moment einer zunehmenden Reduktion auf die Zweidimensionalität, auch die Lust an einer neuen Art der Bewegung rasch die Oberhand. Es ist erstaunlich, wie klar und vielfältig diese Begegnungen sind. Und wie real. 
Auf dieselbe Weise ist es möglich, mit der Vorstellung einer ganzen Gruppe als „Gegenüber“ zu arbeiten, was sich vor allem für das Format des Vortrags als hilfreich erwiesen hat. Wenn der Raum, den der oder die Vortragende mit seiner bzw. ihrer Präsenz füllt, weiter geht als bis zur Kamera des beteiligten Laptops, stellt sich auf der anderen Seite sofort eine direktere, persönlichere Beziehung nicht nur zur zum Sprecher oder der Sprecherin, sondern vor allem auch zum Gesagten ein. Diese Erweiterung ist auch in diesem Falle möglich über die Aktivierung eines inneren Bildes: Die vorgestellten Zuhörer*innen bringen den Körper des Sprechers / der Sprecherin in Resonanz – und in letzter Konsequenz zur Ausdehnung. 
 
 
Frontal oder vernetzt
 
Doch nicht nur jede*r Einzelne ist geprägt durch die digitale Situation; auch die Gruppenprozesse verändern sich deutlich. Wer in einer Gruppe als nächste/nächster das Wort ergreifen wird, erspüren wir im analogen Raum, ohne darüber nachzudenken, mit dem Körper. Da gibt es ein Luftholen, ein Vorwärtsneigen, eine kleine Bewegung des Kopfes – und wir wissen, dass sich jemand darauf vorbereitet, etwas zu sagen. Das heißt, wir haben eine ganze Menge Informationen, die uns ermöglichen, einzuschätzen, ob jetzt ein geeigneter Moment ist, selbst zu sprechen. Im digitalen Miteinander fallen diese unwillkürlichen Zeichen und vor allem die Möglichkeit, sie (mit dem Körper) zu lesen, weg. Was dazu führt, dass sich das Sprechen ganz stark zu der die Gruppe leitenden Person verlagert. Eine offene Frage in die Runde bleibt oft lange unbeantwortet, von ungefragten Zwischenbemerkungen der Gruppenmitglieder ganz zu schweigen. Häufig ist das direkte Ansprechen, Fragen eines Mitglieds der einzige Ausweg aus dem Frontalvortrag – was wieder unangenehme Erinnerungen an den Schulunterricht wachruft. 
Diese Dynamik ist nicht ganz zu vermeiden; aber die Situation verändert sich spürbar, wenn es gelingt, so etwas wie „Querverbindungen“ in der Gruppe zu schaffen. Wenn die einzelnen Mitglieder schon einmal Gelegenheit hatten, im digitalen Raum direkt miteinander in Kontakt zu treten. Eine gute Möglichkeit dafür sind Breakout-Sessions in relativ kleinen Gruppen (3 bis 5 Personen), in denen entweder eine bestimmte Aufgabe mit Bezug zum Gesamt-Thema gelöst werden soll – oder einfach nur die Möglichkeit besteht, sich informell auszutauschen. Unserer Erfahrung nach gestaltet sich das Gespräch in der gesamten Gruppe unmittelbar nach einer solchen Session deutlich lebendiger. Doch auch dieser Effekt ist nur von mittlerer Dauer: Nach einer knappen Stunde stellt sich die ursprüngliche frontale Dynamik wieder her. Das heißt, wenn die Diskussion innerhalb einer Gruppe lebendig bleiben soll, ist es hilfreich, immer wieder solche Breakout-Sessions zu ermöglichen und auch die Pausen- bzw. Vor- und Nach-Zeit eines Meetings zu nutzen. Weil sich sogar in diesen informellen Räumen die Aufmerksamkeit sehr schnell auf den oder die Host fokussiert, öffne ich den virtuellen Begegnungsraum zehn Minuten vor dem eigentlichen Meeting und überlasse die Teilnehmer*innen sich selbst. Detto nach dem Ende des Meetings: Der Raum bleibt offen, ich bin nicht mehr anwesend und schließe ihn erst, wenn ihn die letzten Teilnehmer*innen verlassen haben.  
 
 
Das eigene Bild
 
Auf der Suche nach Präsenz ist ihr Selbstbild für viele Menschen ein Thema. Kommt die Wahrnehmung meiner Präsenz aus meinem Inneren – oder aus dem Bild der anderen, bzw. dem, was ich dafür halte? In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es für alle Vortragenden sinnvoll ist, mit dem eigenen Video auf dem Bildschirm konfrontiert zu sein. Dazu haben wir zwei Beobachtungen gemacht: Für Menschen, die stark von ihrer (vermeintlichen) Außenwirkung bestimmt sind, kann es hilfreich sein, das eigene Bild wegzuschalten. Andererseits entsteht durch das Fehlen dieses Bildes eine ähnliche Dynamik wie in den Spielen der Augmented Reality: Ich kann mich zwar im virtuellen Raum bewegen, interagieren, aber ich selbst bin nicht sichtbar, verliere sozusagen neben meinem anaolgen auch noch meinen digitalen Körper.
Anders stellt sich die Situation im Zweier-Gespräch dar: Wenn ich den Bildschirm in eine gewisse Entfernung rücke und nur mein Gegenüber sehe, kann eine Gesprächs-Situation entstehen, die zumindest in ihrer räumlichen Anordnung dem realen Sitzen an einem gemeinsamen Tisch relativ nahe kommt. Das Abrücken vom Bildschirm öffnet darüber hinaus auch ein Stück weit den lateralen, räumlichen Blick und gibt so der Situation eine zusätzliche Dimension und Tiefe. Für die Arbeit mit Gruppen könnte eine derartige Konstellation durchaus ebenfalls hilfreich sein; allerdings wäre dafür ein sehr großer Bildschirm Voraussetzung, damit die weggerückten Bilder nicht zu Briefmarken verkommen. 
 
 
Präsenz virtuell
 
Wenn ich die Summe dieser Erfahrungen betrachte, bemerke ich, dass gar kein so großer Unterschied besteht zwischen dem, was ich als „Präsenz“ im analogen Raum wahrnehme, und dem, was mir der Begriff im digitalen bedeutet. Präsent sein heißt hier und jetzt zu sein. Und das Hier und Jetzt ist immer das Hier und Jetzt des physischen Körpers – nur wenn ich mit und in diesem konkreten Körper angebunden bin an meine Selbst-Wahrnehmung, kann ich diese Präsenz auch in den virtuellen Raum übertragen. Die Autonomie und vielfältige Wahrnehmungsfähigkeit dieses Körpers im Digitalen nicht zu verlieren, mag eines zusätzlichen Aufwands bedürfen. Einer zusätzlichen Aufmerksamkeit, Konzentration – auch Kondition. Aber wenn es mir gelingt, den Körper vor dem Verschwinden zu bewahren, den physischen Raum als meinen eigentlichen Bezugsrahmen aufrecht zu erhalten – dann steht mir der digitale Raum als vielfältige Erweiterung zur Verfügung. Dann kann ich ihn benutzen und nach meinen Vorstellungen formen, anstatt von ihm geformt zu werden. 
Es braucht Achtsamkeit dafür. Großzügigkeit. Und das Hören auf meine ganz konkreten Bedürfnisse. Ich bin dankbar für die Möglichkeit, in der momentanen Situation in diesen digitalen Raum mit allen seinen speziellen Herausforderungen ausweichen zu können – und ich freue mich auf den Tag, an dem wir einander wieder im realen Raum mit unseren dreidimensionalen, realen Körpern begegnen werden. Bereichert durch neue Erfahrungen – vor allem die der Dankbarkeit für das Analoge.
 
April 2020