Medientheorie: Alexander Gerner
Am 22. Oktober wird Alexander Gerner,
Universität Lissabon, auf Einladung der Abteilung Medientheorie einen Vortag halten zu Antlitzverluste - Zum Kritischen Posthumanismus
des Gesichts: Haben wir dem Antlitz (Countenance/Gegenblick) und den unterschiedlichen technisch-mathematisierten Vorstellungen
des Gesichts und seiner philosophischen Reflexionspraktik als „verdichtetes Bild des Menschen“ bereits genug Aufmerksamkeit
geschenkt?
Dieses Bild des Menschlichen gilt es in der Zeit von AI, Big Data und Programmierbarkeit
algorithmisch- metrischer Rationalisierungen des Sozialen kritisch-posthuman über künstlerische Praktiken neu zu differenzieren.
Konzepte des anthropologischen Gesichtssinns, der poststrukturalen Gesichtsmaschine aus Linien und Löchern, der visagiete
(„visum“), persona, panim, lico, Prosopon (Maske) und eines kartographierten Surface der Gesichtserkennung, dem affektive
Expressionsfähigkeit zugesprochen wird, sollen hinterfragt werden.
Das Paradox der ästhetischen, politischen und
sozialen Programmierung von Gesichtern via Gesichtsmodellierungen und mathematisierte Kartographien zur (Früh-) Erkennung
von Identität und zum Training und der Beeinflussung von affektivem (sozialen) Verhalten (programmed sociality) soll hierbei
diskutiert und politische und künstlerische Strategen und Dramaturgien im Umgang mit diesen posthumanen Technologien in radikal
ethischen Gesten – in Weiterführung von Levinas – des Gesichts-Hacking als Widerstand gegen die kommerzielle Nutzung der Gesichtserkennung,
angedacht werden.
Algorithmen und Programme entsprechen den Gesetzen der Wiederholung und Identität indem sie logischen
Prinzipien folgen und damit Widerspruch ausschließen. Kunst und Soziales hingegen setzen oft Techniken des Widersprüchlichen
und insbesondere paradoxale Gegensätze zur technischen Rationalisierbarkeit und Machbarkeit ein, um Welt neu zu zeigen, methodisch-habituelle
Umgangsweisen zu hacken, die Besonderheit singulärer Begegnungen zu sondieren, oder auch um uneinheitliches, ästhetisches,
politisches und technisches Rauschen (noise) und Synkopen in algorithmisch-rationalen, informationell-synchronisierten Vernetzungszusammenhängen
zu erzeugen.
Das Hacken des menschlichen Gesichts in ästhetischen Praktiken und technischen Gesichtsprogrammierungen
wirft im Gegensatz zu Gesichtsbegegnung viele Fragen auf denen wir uns stellen heute müssen: Können wir, Ghosting und Deep
Fake aus der Sicht eines ethisch-politischen „Gesichtsverlustes“ diskutieren, nämlich als performative selbst-organisierte
Selbst-Auflösung im unlösbaren anthropologischen Dreieck zwischen „Mensch-Körper-Bild“ (Hans Belting)? Was ist unheimlich
(uncanny) daran, mit künstlichen AI-Gesichtern (This person does not exist) und Avataren (z.B. Millie; TBNeurons), Künstlichen
Menschen (Baby X) konfrontiert zu werden? Können wir eine AI-Uncanny Photobooth und deren kunsthistorischen stilistischen
Anpassungen von synthetischen menschlichen Gesichtern, bereits als Kunst betrachten? Werden wir ein eng integriertes algoritmisierbares
Selbst und programmiertes „Wir“ nach dem posthumanen Antlitzverlust und der Einführung von künstlichen Mit-Menschen und Mit-Avataren,
oder wird der Zerfall und asymmetrische Guerillataktik multipler, serieller aber nicht identischer Singularitäten der Gesichtsbegegnungen
eine starke widerständige Möglichkeit bleiben?
Alexander Gerner ist Theatermacher und Philosoph und lebt seit 2000 in
Lissabon. Er forscht an der Faculdade de Ciências da Universidade de Lisboa (CFCUL) - der Naturwissenschaftlichen Fakultät
der Universität Lissabon und ist Leiter der Forschungslinie Philosophy of Human Technology (PHILHUMTECH). Er promovierte über
Philosophical Investigations of Attention in Geschichte und Philosophie der Wissenschaften (Universität Lissabon). Hier war
er von 2013 an mit seinem Forschungsprojekt http://cognitiveenhancement.weebley.com bis vor kurzem tätig und forscht dort
nun seit Juli 2019 in dem Projekt Hacking Humans. Dramaturgies and Technologies of Becoming Other.
Seine Forschungsgebiete
sind unter anderem: Wissenschaftsphilosophie, Technikphilosophie Medienphilosophie, Kritik der algorithmischen Rationalisierung
von Sozialität und Ästhetik. Erkenntnistheorie und ethische, soziale und politische Aspekte der Kognitionswissenschaften/verkörperter
Technologien, Körpersemiotik und Grundlagen der Gestenforschung; Philosophie der Aufmerksamkeit, Ethik, Politikberatung und
Epistemologie des Kognitiven Enhancement und der Ästhetik der performativen Künste.
Die Gastvortragsreihe in der
Vorlesung von Professor Ingeborg Reichle zu BioArt - Kunst für das 21. Jahrhundert ist eine anregende Gelegenheit für Studierende
und Gäste von Künstlern und Experten mehr über neue Entwicklungen in Themenfeldern wie Medienkunst, Bioart und Biodesign zu
erfahren.
Unsere Gastvorträge stehen allen Interessierten offen.